- Altern und Tod
- Altern und TodWir Menschen setzen uns geistig und emotional intensiv mit dem Älterwerden auseinander. In allen Kulturen ist der Verlust der körperlichen Spannkraft Thema von Alltagsgesprächen und findet Eingang in Märchen und anderen Überlieferungen. In unserer eigenen Tradition gibt es Wunsch- und Wundervorstellungen, die das Ideal der ewigen Jugend oder das Wiedererreichen jugendlichen Aussehens und jugendlicher Fähigkeiten zum Inhalt haben. Der »Jungbrunnen« ist eine solche mythisch verklärte Utopie.Das mit dem Altwerden unerbittlich verknüpfte Sterbenmüssen ist in den Überlieferungen der Kulturen noch tiefer verankert. Nahezu überall findet sich die Vorstellung des ewigen Lebens oder der Wiedergeburt. Offensichtlich fällt es uns schwer (der boomende Gesundheitsmarkt und Lifestyle-Drogen wie das Potenzmittel Viagra belegen es), uns mit dem allmählichen Schwinden und dem letztlich völligen Versiegen der Lebenskraft abzufinden. Doch warum können wir eigentlich nicht ewig im Augenblick verweilen? Warum hört die Reifung nicht da auf, wo, wie man sagt, das Leben am schönsten ist: in der Jugend oder um die Mitte unserer gezählten Jahre?Altern und Tod sind unverzichtbarer Bestandteil des Lebens, so wie die Aufeinanderfolge der Generationen ein unverrückbares Prinzip der Evolution ist. Es musste in diesem seit Jahrmilliarden währenden Prozess sichergestellt werden, dass auf eine Elterngeneration stets eine der Nachkommen folgte, denn nur so war gewährleistet, dass eventuell aufgetretene Mutationen sich durchsetzen konnten — in einer von den Alten geräumten ökologischen Nische. Die Ressourcen waren und sind stets begrenzt, die Eltern müssen den Jungen Platz machen. Diese biologische Notwendigkeit wird durch verschiedene Mechanismen gesteuert.Krankheiten im AlterIn diesem Jahrhundert sind zum ersten Mal die Sterblichkeitsraten älterer Menschen deutlich gesunken. Entscheidende Zugewinne an Lebensjahren werden nur noch dann möglich sein, wenn das durchschnittliche Lebensalter noch weiter ansteigt — was vermutlich nur sehr langsam, wenn überhaupt eintreten wird. In den ehemals kommunistischen Ländern ist die Lebenserwartung in den letzten Jahren zurückgegangen. Darin spiegelt sich eine für weite Bevölkerungskreise schlechter gewordene ökonomische Situation und der Verlust der zuvor erlebten beruflichen Kontinuität und persönlichen Existenzsicherung wider. Menschen tendieren dazu, in solchen subjektiv als besonders belastend empfundenen Krisensituationen zu Alkohol, Nikotin, anderen Drogen und gesundheitsgefährdenden Verhaltensweisen Zuflucht zu nehmen.Die statistische Lebenserwartung eines heute geborenen Mädchens beträgt in Deutschland und in vergleichbaren Ländern fast 80 Jahre, die eines neugeborenen Jungen etwa 7 Jahre weniger. Aus diesen Zahlen wird klar, dass wir derzeit in den meisten Ländern Zentraleuropas und Nordamerikas unter Bedingungen leben, die wohl nie in der langen Menschheitsgeschichte der Gesundheit insgesamt so förderlich waren.Seit 1965 ist die Lebenserwartung der Frauen noch stärker gestiegen als die der Männer, obwohl sich auch bei diesen seit den frühen 1980er-Jahren eine positive Tendenz erkennen lässt. Die Lebenserwartung ist eng an den Lebensstil gekoppelt. Deshalb gehen hier auch Unterschiede im Risikoverhalten bei Männern und Frauen ein. Risikoverhalten (zum Beispiel exzessives Alkoholtrinken) wird bei und von Männern gefördert und gefordert. Zudem erleiden Männer mehr Unfälle, Herz-Kreislauf- und Krebserkrankungen. Diese geschlechtsspezifischen Unterschiede haben dafür gesorgt, dass sich die Lebenserwartung in den letzten 100 Jahren noch deutlicher zugunsten der Frauen verschoben hat.Durch die Industrialisierung kam es anfänglich zu Problemen für die Gesundheit der Menschen, etwa zu einer Zunahme der Rachitis bei Säuglingen durch fehlendes Sonnenlicht und Schäden durch zu belastende Arbeit. Letztlich brachte sie aber einen höheren Lebensstandard mit sich. Dabei spielten vor allem die ausreichende und qualitativ hochwertige Ernährung, gesündere Arbeitsplätze, helle, warme Wohnungen, die verbesserte Hygiene, Impfungen, Medikamente, Antibiotika sowie moderne operative Techniken und Antisepsis eine Rolle. Ideal wäre es, wenn es gelänge, die Segnungen der Zivilisation mit jenen der ursprünglichen Lebensführung zu verbinden. Ansätze dazu finden sich in verschiedenen Reform- und Alternativbewegungen.Unsere wesentlich längere Lebensdauer bezahlen wir aber mit mehr und neuen Krankheiten, vor allem den Zivilisationskrankheiten, und bedingt durch unsere Familienstruktur droht uns im Alter zunehmende Vereinsamung. Kleinfamilien in zu kleinen Wohnungen können und wollen oft die pflegebedürftigen Alten nicht zu sich nehmen. Dazu kommt die räumliche Trennung zwischen den Generationen, die früher längst nicht so ausgeprägt war. Der heutige Arbeitsmarkt erfordert Flexibilität und Mobilität. Kinder und Enkelkinder wohnen oft weit weg von den Großeltern. Selbst wenn häufiges gegenseitiges Besuchen und Betreuen möglich wäre, unterbleibt es oft, weil die Jungen und die Alten unterschiedliche Interessen haben.Im Jahr 1900 erlebten nur 60 Prozent der Frauen die Menopause, heute sind es 95 Prozent. Wenn keine Hormonpräparate eingenommen werden, verbringen Frauen heute ein Drittel ihres Lebens in einem für die Zeit nach der Menopause typischen Hormonmangelzustand. Der statistisch durchschnittliche Beginn der »Wechseljahre« mit 47 Jahren hat sich in der historischen Entwicklung kaum verschoben. Die eigentliche Menopause ist definiert als die letzte Periodenblutung. Sie ist ein Zeichen für das Ende der fruchtbaren Phase im Leben der Frau und findet durchschnittlich mit 51 Jahren statt. Zu Beginn der Wechseljahre sind die zum Zeitpunkt der Pubertät vorhandenen circa 300 000 Eizellen weitgehend verbraucht oder gealtert. Der monatliche Eisprung findet nicht mehr statt und wenn doch, tritt er verfrüht oder verzögert auf, was häufige Blutungsstörungen zur Folge hat. Die Eierstöcke lassen sich immer weniger durch die intensive Ausschüttung des in der Hypophyse gebildeten follikelstimulierenden Hormons (FSH) anregen. Dadurch kommt es nach und nach zum Östrogenmangel im Blut. Die Produktion der männlichen Hormone, die in den Eierstöcken der Frau in geringen Mengen gebildet werden, endet erst Jahre später. Durch den Östrogenmangel entstehen vielfältige vegetative und psychische Symptome. Die Beschwerden dauern etwa 5 Jahre, die Zeitspanne kann von 1 Jahr bis zu 15 Jahren variieren. Die Symptome gehen mit organischen Veränderungen einher.Frauen, die sich auf die Wechseljahre einstellen können, schaffen eher eine Neuorientierung durch einen beruflichen Wiedereinstieg oder Aufstieg und sehen durchaus auch positive Aspekte der Wechseljahre wie die Sicherheit, dass keine ungewollte Schwangerschaft mehr eintreten kann oder den Ausfall der Menstruation. Durch den Wegfall der direkten persönlichen Fürsorge für kleine Kinder mit dem zeitintensiven und fordernden Einsatz bleibt wieder mehr Zeit für den Partner sowie für eigene Interessen und Hobbys.Wenn der Alterungsprozess als psychisch stark belastend empfunden wird oder mit stark ausgeprägten Beschwerden einhergeht, stehen die negativen Aspekte der Wechseljahre im Vordergrund: Verlust der Fruchtbarkeit und der biologischen Attraktivität, Trennung vom Partner, Ehekrise oder Scheidung, Pflegebedürftigkeit der eigenen Eltern. Wenn die ganze Fürsorge nur den jetzt erwachsenen Kindern galt und diese das Haus verlassen haben, kann das Gefühl des »leeren Nestes« eine Lebenskrise mit mangelnder Orientierung und starker Frustration durch die fehlende Aufgabe hervorrufen und die Entstehung depressiver Verstimmungen fördern.Für die eben beschriebenen Frauen ist eine Therapie mit Östrogenen (und bei vorhandener Gebärmutter auch mit Gestagenen) wichtig und notwendig, weil dadurch die Beschwerden verringert werden, die Lebensqualität steigt und die Alterungsprozesse aufgehalten werden. Die vielfältigen positiven Effekte der Östrogene überwiegen bei weitem gegenüber den nachteiligen Wirkungen, von denen das leicht erhöhte Brustkrebsrisiko am bekanntesten ist. Daher gehört für viele Frauen in und nach der Menopause heute eine Hormonersatztherapie zum täglichen Leben.Neuerdings beschäftigt man sich auch mit den Alterungsvorgängen beim Mann. Man spricht vom »passageren Hormontief« und analog zur Menopause von der »Andropause«, obwohl sich die Alterungsprozesse beim Mann nicht mit einem so tiefen Einschnitt vollziehen wie bei der Frau, sondern eher stufenweise. Möglicherweise wird schon in 10—15 Jahren auch bei Männern eine auf sie abgestimmte spezielle Hormontherapie üblich, die auch bei ihnen zu einer weiteren Zunahme der Lebenserwartung beitragen könnte.Knochenabbau und OsteoporoseEine altersbedingte Krankheit ist die Osteoporose, die besonders Frauen nach der Menopause durch den Östrogenmangel betrifft. Doch fangen die Abbauvorgänge der Knochen im Körper schon in jüngeren Jahren an. Bis etwa zum 25. Lebensjahr wird Knochen aufgebaut und schon mit dem 25.—30. Lebensjahr ist man auf dem Gipfel der Knochenmasse angekommen.Die Geschwindigkeit des Knochenabbaus ist von Mensch zu Mensch verschieden. Mit Beginn des Östrogenmangels in der Zeit der Wechseljahre wird bei Frauen der Knochenabbau deutlich beschleunigt, da der Knochenstoffwechsel auch von der Anwesenheit von Östrogenen abhängig ist. Jeder der alt genug wird, kann an Osteoporose erkranken. Bei möglichen negativen Zusatzfaktoren wie schlechte Ausgangsknochenmasse, Übergewicht, Bewegungsmangel oder die Gabe bestimmer Medikamente über längere Zeit (zum Beispiel Cortison oder Heparin) kann sich schon 10 Jahre nach der Menopause eine ausgeprägte Knochenentkalkung mit Verlust der für die Stabilität des Knochens wichtigen Knochenbälkchen entwickeln.Vergleicht man den Knochen mit seinen Knochenbälkchen mit der Balkenkonstruktion eines Fachwerkhauses, dann ist bei einer Osteoporose die ganze Balkenkonstruktion durch Fehlen bestimmter Balken instabil und das Haus einsturzgefährdet. Überschreitet der Knochenabbau ein bestimmtes Maß, werden die Knochen brüchig. Bei alten Menschen bricht oft schon nach einem banalen Sturz am ehesten der Oberschenkelhalsknochen. Früher kam das oft einem Todesurteil gleich. Durch moderne Operationsmethoden konnte die Sterblichkeit stark gesenkt werden. Trotzdem sterben nach einem Oberschenkelhalsbruch 20 Prozent der Patienten im ersten Jahr nach der Operation und 20 Prozent bleiben dauerhaft pflegebedürftig. Mit einer Änderung des Lebensstils, durch ausreichende Calciumzufuhr, häufigere und tägliche Bewegung, vorsorgliche Gaben von Vitamin D sowie mit einer Hormonersatztherapie bei Frauen lässt sich der Knochenabbau deutlich aufhalten oder verlangsamen.Die Alzheimer-KrankheitIn Deutschland leben mehr als 12 Millionen Menschen, die älter sind als 65 Jahre. Von ihnen leiden nach neueren Schätzungen bis zu 1,2 Millionen an der Alzheimer-Krankheit. Zu den Symptomen gehören Gedächtnisverlust, Verlust der Sprachfähigkeit und des Urteilsvermögens, weitgehende Veränderungen der Persönlichkeit sowie ausgeprägte Stimmungsschwankungen. Zuerst leidet das Wortgedächtnis, später auch das visuelle Gedächtnis und noch später setzt der Verlust des räumlichen Vorstellungsvermögens ein. Im ersten Krankheitsstadium bereitet es dem Erkankten noch keine Probleme, bekannte Gegenstände und Personen richtig zu benennen oder beim Reden die richtigen Worte zu verwenden. Deshalb merken meistens weder die Patienten noch die Angehörigen etwas von der beginnenden Krankheit. Jedoch können sich die Patienten nur mit Mühe erinnern, ob sie ein bestimmtes Wort kürzlich gelesen oder ein bestimmtes Foto schon einmal gesehen haben.Die Ursachen der Alzheimer-Krankheit liegen noch im Dunkeln, doch geht man von mehreren Ursachen aus. Zu den Risikofaktoren gehört auf jeden Fall eine familiäre Vorbelastung. Durch molekularbiologische Untersuchungen kann man bei Angehörigen von Betroffenen feststellen, ob sie ein bestimmtes Gen in besonderer Ausprägung haben oder nicht und damit ein ererbtes, stark erhöhtes Risiko haben, an Alzheimer zu erkranken. Für solche Genträger ist Vorbeugung und eine Frühtherapie besonders wichtig, denn mit geeigneten Maßnahmen kann der Beginn der Erkankung um 10 Jahre nach hinten verschoben werden. Wer sich mit Lernübungen fit hält oder im Beruf immer wieder dazulernen muss, erkrankt seltener. Für Frauen nach den Wechseljahren ist wahrscheinlich die Hormonersatztherapie mit Östrogenen und Gestagenen eine Möglichkeit der Vorbeugung.Eine Hypothese der Seneszenz (von lateinisch senex = bejahrt, alt, greis), also der Alterungsprozesse bei Mensch und Tier, besagt: Individuen müssen im Durchschnitt nur so lange leben, dass die Wahrscheinlichkeit für das Zeugen, Gebären und erfolgreiche Aufziehen eigener Kinder ausreichend groß ist. Wenn nun Altern und Tod entweder fest einprogrammierte Vorgänge der Organismen oder unvermeidbare Nebenprodukte der Stoffwechselvorgänge und damit ebenfalls Elemente der Evolution sind, wie werden sie dann bewirkt?Fünf Hypothesen zum AlternDie erste Hypothese über das Altern besagt, dass es nicht nur biologische Mechanismen gibt, um das Leben zu zeugen, zu gebären und zu schützen, sondern auch Mechanismen, um es wieder untergehen zu lassen. Nach neueren Erkenntnissen, die diese Annahme stützen, besteht der Prozess des Alterns vor allem darin, dass die ständig in unserem Körper ablaufenden Reparaturvorgänge, die kleine Fehler beim Aufbau von Zellen oder beim Bekämpfen von feindlichen Eindringlingen korrigieren, im Laufe der Zeit weniger gut funktionieren. Diese komplizierten Vorgänge werden von Reparaturgenen überwacht, welche die Fehler korrigieren, die bei der Umsetzung der Erbinformation auftreten. Da die Reparaturgene aber, so die Hypothese, selbst einer Alterung unterliegen, werden immer mehr fehlerhafte Genprodukte gebildet. Das entspricht dem, was wir selbst beobachten: Je älter wir werden, desto mehr fehlerhafte Zellen werden gebildet, die ihre normale Funktion nicht mehr oder nicht mehr so gut wie in der Jugend erfüllen können: Altersflecken entstehen, die Muskeln bilden sich zurück, das Knochenskelett wird brüchiger, Libido, Potenz und Spermaproduktion lassen auch beim Manne nach, obwohl er keine eigentlichen »Wechseljahre« hat. Die Anhäufung dieser kleinen Fehler führt dann zu dem, was wir das »Altern« nennen. Die Mediziner gehen davon aus, dass praktisch jeder Krebs bekommt, wenn er nur alt genug wird. So verdoppelt sich das Krebsrisiko nach dem 25. Lebensjahr alle fünf Jahre. Mehr als die Hälfte der Krebsfälle tritt bei Personen nach dem 65. Lebensjahr auf. Auch hinter dieser Erkenntnis steckt das eben beschriebene Prinzip.Eine zweite Hypothese beruht auf Hinweisen, dass die Zahl der maximal möglichen Verdoppelungsvorgänge in den Zellen begrenzt ist. So können Fibroblasten (das sind die für das Bindegewebe typischen Zellen) nur etwa 50 solcher Vorgänge leisten, überraschenderweise auch, wenn sie unter Laborbedingungen nicht dem »Stress« der Belastungen im Körper ausgesetzt waren. Die neue Vorstellung, dass es eine Obergrenze für die Anzahl von Teilungen gibt, die eine Zelle durchlaufen kann, ähnelt jener Hypothese, die besagt, dass es eine Obergrenze für die während eines Lebens möglichen Stoffwechselprozesse insgesamt gebe. So leben Mäuse, die einen wesentlich höheren Grundumsatz als Menschen haben und bei denen folglich alle Stoffwechselprozesse sehr viel rascher ablaufen, nur etwa drei Jahre.Eine weitere Überlegung geht davon aus, dass das Schicksal der Zellen beziehungsweise ihrer Chromosomen von den Telomeren abhängt, die sich an den beiden Enden des Chromosoms befinden und nicht mit der verletzlichen Genlast beladen sind. Bei einigen Zelltypen werden die Telomere im Verlauf der Zeit immer kürzer, können also die gentragenden Teile nicht mehr so gut schützen. Bei anderen Zelltypen wiederum, zum Beispiel bei den Spermien, die ja ihre Teilungsfähigkeit lebenslang beibehalten, bleiben die Telomere gleich lang oder werden mit dem Alter sogar länger.Jedoch altern und sterben auch solche Zellen, die sich gar nicht teilen, wie die Herzmuskelzellen und die Zellen des zentralen Nervensystems. Dafür müssen andere als die bisher beschriebenen Mechanismen verantwortlich sein. Eine Seneszenzhypothese, die mehrere Befunde gleichzeitig zu erklären vermag, ist die Hypothese von der Wirkung der freien Radikale. Demnach bilden sich bei den ständig ablaufenden Stoffwechselvorgängen zunehmend mehr freie, negativ geladene Sauerstoffmoleküle, die sich aggressiv auf unterschiedliche Strukturen stürzen: Auf die Zellmembranen, auf lebenswichtige Enzyme und auf die Erbsubstanz selbst, die insbesondere in den Mitochondrien leicht angreifbar ist. Die durch die freien Radikale, also durch die Oxidation von Zellstrukturen, verursachten Schäden nehmen nach dieser Theorie im Laufe der Zeit zu und können offenbar nicht mehr ausreichend in Schach gehalten werden. Hohe Gaben der Vitamine A, C und E sollen einen Schutz dagegen bieten. Auch Hormonen wie Östrogenen, dem Wachstumshormon Somatotropin und Melatonin, der Substanz, die unsere innere Uhr regelt, schreibt man einen »anti-aging effect« zu.Eine fünfte Hypothese versucht die verschiedenen Hypothesen zu vereinen: Wahrscheinlich ist das Altern nicht nur durch einen, sondern durch mehrere Faktoren verursacht; einige von ihnen belasten den Körper von außen (zum Beispiel Krankheiten), andere bewirken den Alterungsprozess von innen.Zusammenfassend kann man sagen, dass jede Zelle ein Programm zum Teilen und Vermehren, aber auch ein Programm zum »Selbstmord« (der Apoptose) in sich trägt. Äußere Umstände, die Hormonsubstitution, die Belastung mit freien Radikalen und andere Faktoren entscheiden letzten Endes über das Schicksal der jeweiligen Zelle.Wie groß ist unsere Lebensspanne?Ist mithilfe der modernen Medizin das allmähliche Nachlassen der Vitalität zu verhindern oder wenigstens hinauszuschieben? Kann man statt wie bisher durchschnittlich 80 auch 150 Jahre oder mehr leben? Derartige Wünsche werden vermutlich noch für lange Zeit, vielleicht für immer, unerfüllbar bleiben. Bei einer historischen Betrachtung humanbiologischer Tatbestände fällt auf, dass sich das erreichbare Höchstalter des Menschen nicht geändert hat, jedenfalls nicht in jenen Zeiten, über die wir halbwegs verlässliche Aufzeichnungen besitzen. 100 Jahre oder etwas darüber haben wohl zu allen Zeiten einige Menschen gelebt. Der einzige Unterschied zu früher ist, dass heute wesentlich mehr Menschen ein solches Alter erreichen, also in die Nähe der biologischen Grenze unserer Lebensdauer vordringen. Mit anderen Worten: Selbst unsere in vieler Hinsicht so erfolgreiche Medizin hat es nicht vermocht, die obere Lebensgrenze hinauszuschieben; die moderne Medizin erhält nur einen viel größeren Prozentsatz von Menschen so lange am Leben, bis sie an die unweigerliche Grenze stoßen.Fachleute nehmen an, dass das unter optimalen Bedingungen erreichbare Lebensalter bei 120 Jahren liegt. So alt (oder fast so alt) werden nur ganz wenige Menschen. Allerdings gibt es auch Forscher, die meinen, gesunde Greisinnen und Greise von 400 Jahren seien keine Utopie. Doch auch eine Obergrenze von 120 Jahren ist im Grunde schon eine recht optimistische Schätzung. Wenn wir Glück und von unseren Eltern Gene für Langlebigkeit mitbekommen haben, werden wir bei halbwegs guter Gesundheit 80 Jahre alt, einige wenige können ihren Freunden, ohne etwas zu verschütten, die Sektgläser zur Feier ihres hundertsten Geburtstags füllen; und auch bei jenen Völkern (zum Beispiel im Kaukasus), wo die Menschen bei guter Gesundheit sehr lange leben, gibt es nur wenige Personen, die die Grenze von 120 Jahren erreichen, wenn man zuverlässige Geburtsdaten (die meist fehlen) zugrunde legt.Möglicherweise haben wir den Gipfel der Langlebigkeit auch schon hinter uns. Denn den seit Urzeiten wirksamen Belastungen durch Mikroorganismen, den in der natürlichen Umwelt allenthalben vorkommenden Giften und der kosmischen und terrestrischen Strahlung fügen wir laufend neue, menschengemachte Belastungen hinzu. Es könnte daher sein, dass diese selbst erzeugten Probleme unsere Seneszenz schneller vorantreiben, als die Fortschritte der modernen Medizin sie hinauszuschieben vermögen.Psychologie und Soziologie des AltersDie Biologie des Alterns ist von Abbauprozessen bestimmt, doch durch den Zugewinn an Lebenserfahrung und -weisheit im Alter können vor allem die durch Denken, Fühlen und Handeln bestimmten Verhaltensbereiche positiver empfunden werden als in jungen Jahren. Der Alterungsprozess ist auch kulturhistorisch determiniert, das heißt, verschiedene Kulturen und Epochen bestimmen in jeweils unterschiedlicher Weise das äußere Bild des älteren Menschen und auch dessen innere Befindlichkeit. Vor ein, zwei Generationen wirkten Menschen, die die 60 überschritten hatten, durch Kleidung und Verhalten viel älter als dieselbe Altersgruppe heute. Auch die Interessen älterer Menschen haben sich stark gewandelt; dazu beigetragen hat ihre größere finanzielle Unabhängigkeit, die ihnen zum Beispiel Reisen ermöglicht, und die vielfältigen Angebote, die den Älteren heute zur Verfügung stehen, zum Beispiel Seniorenuniversitäten oder Sport.In der ersten Phase des Alterns (50—65 Jahre) ist eine Anpassung an die nachlassende geistige und körperliche Leistungsfähigkeit möglich. Man kann lernen, mit den sich einstellenden Schwächen vernünftig und geschickt umzugehen. In der zweiten Phase (bis 75 Jahre) muss man lernen, sich zu beschränken, denn es geht alles langsamer. Kommen Krankheiten hinzu, kann der Alterungsvorgang rascher fortschreiten. Daher ist es für ältere Menschen so wichtig, Krankheiten durch Früherkennung zu verhindern. Neben den ärztlichen Maßnahmen kann eine Beratung über den Lebensstil die Lebensqualität verbessern.Die evolutionäre Rolle der GroßmutterIn der Evolution kommt es darauf an, die Gene der Elterngeneration an die Kinder weiterzugeben. Beim Menschen ist, wie bereits besprochen, die Phase der Abhängigkeit der Kinder und Jugendlichen von den Eltern ungewöhnlich lang. Aus evolutionsbiologischer Sicht ist das erklärlich, denn Kinder haben im Normalfall frühestens zwischen 15 und 20 Jahren erstmals eigene Kinder, die einen Weitertransport der Großelterngene sicherstellen. Demnach sollte ein Menschenleben bis ungefähr um die vierzig dauern. In der Tat tut es das auch in vielen Gesellschaften, in denen die Gesundheitsbedingungen nicht gut sind. Das statistisch zu erwartende Alter in unserer derzeitigen Bevölkerung liegt aber bei fast 80 Jahren und ist damit doppelt so hoch. Diese Tatsache lässt sich damit erklären, dass der Organismus eine gewisse Reservevitalität haben muss, um die verschiedenen Angriffe auf seine Gesundheit zu überstehen.Solche Überlegungen stehen auch im Einklang mit dem Faktum, dass Frauen bis weit jenseits ihrer eigenen Reproduktionsfähigkeit leben können, und in fast allen Gesellschaften älter werden als die Männer derselben Generation. Männer werden Opfer ihrer auf mehr Risiko ausgelegten Natur. Ebenso sterben in bewaffneten Auseinandersetzungen mehr Männer als Frauen, doch auch ohne diese Art von Risiken sind Frauen das langlebigere Geschlecht — ihr Organismus ist im Normalfall und nicht zuletzt durch die typisch weibliche Verteilung von Hormonen besser geschützt.So kommt es nur bei den Menschen dazu, dass die Phase der weiblichen Reproduktionsfähigkeit, bezogen auf die Gesamtlebenszeit, relativ kurz ist. Wenn man Erstere mit 30 Jahren ansetzt (zwischen 16 und 46), dann ergibt sich, selbst wenn die Lebensdauer nur 60 Jahre beträgt, ein Quotient von 1 : 2, das heißt die Hälfte ihres Lebens verbringen Frauen außerhalb der Phase, in der sie Kinder gebären können. Selbst bei unseren nächsten Verwandten im Tierreich gibt es bestenfalls Ansätze zu einer solchen biologisch vorgegebenen Regelung. Welchen Nutzen könnte sie haben?Die Antwort der modernen Evolutionsbiologie besagt, dass es offenbar eine bessere Strategie war, die nach knapp 50 Jahren noch im Eierstock vorhandenen Eier, die durch kosmische Strahlung und andere schädliche Faktoren beeinträchtigt sein können, nicht zur Befruchtung kommen zu lassen. Dafür wurde den nicht mehr fortpflanzungsfähigen Frauen eine neue Rolle in der Reproduktion zugewiesen. Ihre Aufgabe bestand jetzt darin, ihren eigenen Töchtern und Söhnen zu helfen, deren Kinder großzuziehen, denn die Enkel tragen immerhin 25 Prozent der Gene der Großmutter in sich. Das ist nach Meinung der Wissenschaftler ein ausreichender Grund, sich intensiv um die Enkelgeneration zu kümmern. Und so geschieht es ja in der Tat auch in den meisten Kulturen der Welt. Die Evolution hat also die Rolle der Großmutter besonders belohnt. Entwicklungen in den Industriegesellschaften haben allerdings inzwischen dazu geführt, dass Frauen jenseits der Menopause weitgehend ein unabhängiges Leben führen und nicht mehr so häufig am Großziehen ihrer Enkel beteiligt sind.Die Fortschritte der ZeitAufgrund unserer höheren Lebenserwartung erreichen die Eltern eine Lebensphase ohne elterliche Pflichten, wenn sie selber noch nicht alt sind. Freizeitaktivitäten, ein neuer Anfang im Beruf oder aber die Pflege der Eltern und Großeltern können jetzt eine große Rolle spielen. Wenn das letzte Kind volljährig wurde, hatten Mütter vor 100 Jahren kaum noch 10 Jahre zu leben. Heute sind es an die 30 Jahre, das heißt eine Generationsspanne. Daher überlappen sich oft drei Generationen, es kommt zu einer vertikalen oder intergenerationellen Ausdehnung der Verwandtschaft. Noch nie hat es so viele Großeltern und Urgroßeltern gegeben wie heute, doch treten sie in den Familien auch aufgrund veränderter Lebens- und Wohnbedingungen viel weniger in Erscheinung als früher. Das führt dazu, dass viele Menschen im Alter vereinsamen.Ein weiteres Problem ist der Umgang unserer Gesellschaft mit alten Menschen, insbesondere deren Wertschätzung. Die Einstellungen gegenüber Alten werden von unseren männlich geprägten Machtstrukturen mit ihrer Betonung auf Individualismus, Leistung, Autonomie und Kontrolle genährt und aufrechterhalten. Alte Menschen haben trotz ihrer Erfahrung und Lebensweisheit keine gewichtige Stimme (mehr?) in der Gesellschaft. Daher sind Schwierigkeiten in der Findung der persönlichen und gesellschaftlichen Identität bei ihnen oft vorprogrammiert. Vor allem bei Männern über 80 steigt die Neigung zum Selbstmord im Alter stark an. Wie schon besprochen leiden viele alte Menschen unter ihrer Hilflosigkeit, insbesondere dann, wenn sie permanent bettlägerig und auf fremde Hilfe angewiesen sind. Der Wunsch, bald in Frieden sterben zu können, ist dann nicht selten.Die griechischen Philosophen Sokrates und Plato sowie die Stoiker hielten es für moralisch gerechtfertigt, einen Menschen mit seinem Einverständnis zu töten, um ihn von Leiden zu befreien. Das Christentum verbot dagegen die Euthanasie als einen dem Menschen nicht zustehenden Eingriff in das Leben und darüber hinaus als eine Zuwiderhandlung gegen das Verbot, Menschen zu töten.In den westlichen Ländern hat die Diskussion um die Sterbehilfe in den letzten Jahren stark zugenommen. Das liegt vor allem an der weit fortgeschrittenen medizinischen Technologie, die inzwischen Personen am Leben erhalten kann, die früher längst gestorben wären. Relativ häufig können Patienten unter Einsatz modernster Intensivmedizin über viele Monate in einem Schwebezustand zwischen Leben und Tod gehalten werden. Die Patienten, die beispielsweise aufgrund schwerer Hirnschäden nach einem Unfall in tiefem Koma liegen, zeigen außer Hirnfunktionen und basalen Stoffwechselleistungen keine Lebensäußerungen mehr. Oft versuchen Angehörige mit den Ärzten zu besprechen, ob es keine Möglichkeit gibt, die lebenserhaltenden Maschinen abzustellen.Doch kommen in einigen Fällen die betroffenen Patienten aus ihrer tiefen Bewusstlosigkeit und der Abhängigkeit von den lebenserhaltenden Apparaten heraus, und manche sind später vergleichsweise wenig geschädigt, sodass sie fortan ihr Leben meistern können. Solche Fälle, in denen gezeigt werden konnte, dass man die Hoffnung nie aufgeben soll, sind eines der Argumente gegen die Euthanasie. Doch nach aller ärztlichen Erfahrung ist bei vielen kranken Menschen im letzten Stadium keine Umkehr des Sterbeprozesses mehr möglich. Soll es dann erlaubt sein, diesen Menschen auf eigenen Wunsch ein Mittel zu geben, das sie möglichst sanft von ihrem Leiden erlöst? Von den europäischen Ländern sind die Niederlande am weitesten in der Entwicklung zu einer solchen Sterbehilfe mit Einwilligung der Betroffenen, obwohl auch nach dortigen Gesetzen solch ärztliches Handeln eigentlich strafbar wäre.Noch problematischer ist es, wenn der Patient sich nicht mehr selbst äußern kann oder nur der Wunsch eines nächsten Angehörigen existiert, unnötiges Leiden nicht zu verlängern. Niemand kann mit letzter Sicherheit feststellen, ob der Patient tatsächlich in der gegebenen Situation eine aktive Sterbehilfe haben möchte. Hier besteht immer die Möglichkeit, Missbrauch zu treiben und gegen das Interesse des Patienten zu handeln. Daher ist es besonders wichtig, für den eigenen Fall sehr klare und besonders hinterlegte Anweisungen zu geben, wenn man eine passive (Abstellen von lebenserhaltenden Apparaten oder die Nicht-Gabe von wichtigen lebensverlängernden Medikamenten) oder aktive (zum Beispiel Spritzen eines Mittels, das zum sicheren Tod führt) Sterbehilfe wünscht.Während unter Fachleuten und in der Bevölkerung über diese Formen der vom Betroffenen gewünschten Euthanasie keine Einigkeit herrscht, besteht heute in den westlichen Gesellschaften eine einhellige Ablehnung der aufgezwungenen »Euthanasie«, wie sie in der Zeit des Nationalsozialismus durchgeführt wurde. Dabei war nicht das Wohl des Individuums entscheidend, sondern man beseitigte ungewollte Menschen unter dem Deckmantel des Allgemeinwohls. Einige Kritiker der Euthanasiebestrebungen warnen, dass ein Aufweichen der bisher noch bestehenden Gesetze zum Schutz jeden Lebens die Grenze von der gewünschten zur aufgezwungenen Sterbehilfe verwischen könnte.Das Ende des LebensFür das Ende des Lebens hat das unerbittliche Wirken von Mutation und Selektion keine so sinnreichen Anpassungen hervorgebracht wie für den Lebensbeginn. Denn die für das Sterben günstigen körperlichen, emotionalen oder kognitiven Eigenschaften wären bestenfalls dann auf spätere Generationen übertragen worden, wenn sie auch schon in früheren Phasen des Lebens wirksam gewesen wären, also zu Zeiten, in denen sie auch noch der Fortpflanzung hätten dienen können. Ein Sterbender pflanzt sich jedoch nicht mehr fort. Daher liegt auf Eigenschaften, mit denen man den herannahenden Tod psychisch gut bewältigt, kein Selektionsdruck. Mit anderen Worten: Die Art und Weise des Sterbens ist selektionsneutral. Das ist vermutlich ein Grund dafür, dass viele Menschen so sehr darunter leiden, sterben zu müssen. Da uns demnach die Biologie und die evolutionäre Psychologie beim Sterben im Stich lassen, müssen wir Menschen zur Bewältigung der Angst vor dem Tod bei den Sinn stiftenden Angeboten der jeweiligen kulturellen Traditionen Zuflucht nehmen. Die Tröstungen der Religion können wesentlich dazu beitragen, vor allem müssen wir aber eigene Strategien für den Umgang mit dieser schwersten Bedrohung des Ich entwickeln.Fünf Phasen des SterbensWie kann man seinen Frieden damit machen, für immer Abschied vom Leben nehmen zu müssen? Die Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross ist die bekannteste unter jenen, die sich mit der Psychologie des Sterbens beschäftigt haben. Sie schildert fünf Sterbephasen, die sich aus Gesprächen mit über 200 Sterbenden herauskristallisierten.Die erste Phase ist gekennzeichnet durch Nicht-wahrhaben-Wollen und Isolierung. Der Betroffene bestreitet die Tatsache des bevorstehenden Todes, und er lehnt Informationen, welche diese Tatsache erhärten, ab. In dieser Phase, die am Beginn des Sterbeprozesses steht, ist die typische Reaktion auf die Mitteilung einer bösartigen oder gar unheilbaren Erkrankung: »Ich doch nicht, das ist ja gar nicht möglich.« Das Verleugnen hat eine wichtige Funktion: Es schützt den Betroffenen vor der überwältigenden Erkenntnis, in absehbarer Zeit sterben zu müssen; es trägt damit zur Bewahrung der psychischen Funktionsfähigkeit des Betroffenen bei und verschafft ihm die Zeit, andere, weniger radikale Strategien der psychischen Abwehr einzusetzen.In der zweiten Phase herrschen Zorn und Auflehnung vor. Der Betroffene hadert mit seinem Schicksal und wendet sich voller Aggression gegen die Gesunden. Er ist wütend darüber, dass ihm all das Schöne, das das Leben bietet, genommen wird, während es anderen erhalten bleibt. Da er sich vom Schicksal ungerecht behandelt fühlt, reagiert er mit Zorn, Wut und Neid. So kommt es zu Kritik und Nörgeleien an allen Personen in der Umgebung des Kranken.Charakteristisch für die dritte, vergleichsweise kurze Phase ist das Verhandeln mit dem Schicksal. Die lebensbedrohende Perspektive wird nun nicht mehr grundsätzlich bestritten. Der Betroffene versucht vielmehr, unter den gegebenen Umständen das Beste zu erreichen. So versucht er durch Wohlverhalten, zum Beispiel Spenden oder das Versprechen, bestimmte Fehler abzulegen, einen Aufschub des Krankheitsverlaufs zu bewirken. Er hegt die Hoffnung, für Wohlverhalten — welches er etwa Gott als »Handelspartner« anbietet — mit Schmerzfreiheit und einem Aufschub des Unvermeidlichen belohnt zu werden.In der vierten Phase dominiert die Depression. Durch körperliche Symptome, medizinisch-diagnostische Untersuchungen und durch Behandlungsmaßnahmen sind der eigene Zustand und die fatale Zukunftsperspektive immer unabweisbarer geworden. Vielfach wird die Depression durch einen verschlechterten Gesundheitszustand verstärkt. Kennzeichnend für die fünfte und letzte Phase ist die Zustimmung. Der Sterbende sieht seinem Ende mit mehr oder weniger ruhiger Erwartung entgegen. Er ist müde, meist körperlich sehr geschwächt und hat das Bedürfnis, oft und in kurzen Intervallen zu dösen und zu schlafen. Diese Phase der Einwilligung ist nach Kübler-Ross jedoch nicht mit einem glücklichen Zustand gleichzusetzen; sie ist vielmehr nahezu frei von Gefühlen. Der Schmerz scheint vergangen, der Kampf scheint vorbei, nun kommt die Zeit der »letzten Ruhe vor der langen Reise«.Die berechtigte Kritik an der Phasenlehre des Sterbens richtet sich gegen einen für alle Menschen gleichartigen, uniformen und unidirektionalen Ablauf des Erlebens und Verhaltens. Sieht man von diesem Kritikpunkt ab, so bietet die Phasenlehre des Sterbens wertvolle Anhaltspunkte dafür, welche Reaktionsformen bei der Auseinandersetzung mit dem nahe bevorstehenden Tod auftreten können.Totenklage und TrauerIn den Religionen, die für ihre Gläubigen einen Erlösungsgedanken bereithalten, wie im Christentum, im Islam und in gewisser Hinsicht auch in den fernöstlichen Religionen, geht der Tote in eine neue, als angenehm charakterisierte Existenz über. Das gilt allerdings nur dann, wenn er sich im Leben einigermaßen an die Regeln und Gebote gehalten hat. Besonders ausgeprägt ist diese Zuversicht im Christentum, in welchem die Erde oft als ein »Jammertal« bezeichnet wurde. Aus dieser Sicht ist unverständlich, warum die Angehörigen eines guten Christen bei seinem Tode um ihn weinen. Trotzdem empfinden die Menschen in allen Kulturen beim Tod einer geliebten Person tiefen Schmerz. Ganz offenbar haben unsere Tränen, hat unsere Verzweiflung nichts mit dem künftigen Schicksal des Toten zu tun, sondern mit uns selbst. Wir trauern aus egoistischen Motiven, weil wir einen Verlust erlitten haben. Das ist keineswegs ein Tatbestand, dessen wir uns schämen müssten. Unsere Betroffenheit und unser Schmerz verraten uns etwas über unsere menschliche Natur: Die enge Bindung zu einer geliebten Person ist für uns so elementar wichtig, dass wir auf ihren Verlust mit tiefer Trauer reagieren.Die Trauerreaktion ist eine psychobiologisch gesteuerte Antwort unseres Organismus. Daher reagieren alle Menschen auf die seelische Erschütterung, die durch den Tod eines geliebten Menschen ausgelöst wird, mit vergleichbaren physiologischen und psychologischen Reaktionen. Nicht nur der Inhalt der Klagelieder aus den verschiedenen Kulturen ist sehr ähnlich, ähnlich sind auch die musikalische Struktur und die melodische Gestalt der Klagelieder. Die Totenklagen vieler Völker haben einen absteigenden, den sinkenden Lebensmut repräsentierenden Melodieverlauf und einen vom betonten Atemholen des heftig Weinenden geprägten Duktus.Die besondere Aufmerksamkeit einer Trauergemeinschaft gilt den am nächsten Betroffenen. Das Mitleid der anderen, ihr Mittrauern, legitimiert die Reaktionen der nahen Angehörigen des Toten und kann ihren Schmerz lindern, denn geteiltes Leid ist halbes Leid. Wenn sie, die dem Toten ferner stehen, ähnliche Gefühle empfinden, liegt darin Bestärkung, gleichsam gesellschaftliche Berechtigung für die eigene Klage. So wird die Trauer von Einzelnen durch die Anteilnahme der anderen ein emotionales Gesamtereignis, das, mit mancherlei weiteren gruppenbindenden Elementen verknüpft, wie kaum ein anderes Geschehen kleinere Gemeinschaften zusammenfügt. Der Gruppe wird durch den Trauerritus, durch die Versicherung des Mitleidens und der Solidarität, in einem Augenblick Identität und damit neue Lebenskraft gegeben, da sie durch den Tod eines Mitglieds geschwächt wurde.Kann man jemanden vor den Folgen der Trauer, vor der Traurigkeit, der Depression schützen, indem man ihn noch weiter in die Trauer hineinstößt? Auf uns wirkt das zunächst fremd und paradox. Denn hierzulande versuchen die Menschen eher, sich am Grabe »zusammenzureißen«. Wie in anderer Hinsicht auch, haben wir Europäer in der derzeitigen Phase unserer Kulturgeschichte ein eher distanziertes Verhältnis zu den elementaren Lebensvorgängen Geburt, Krankheit, Sterben und Tod. Dabei ist es vermutlich gut, dem Trauernden durch Mittrauern und Mitgefühl die Möglichkeit zu geben, seine Gefühle so weit wie möglich auszuleben und der natürlichen Regung des Verzweifeltseins, des Schmerzempfindens nachzugeben. Wenn das geschehen ist, fängt die Gemeinschaft den des Weiterlebens Überdrüssigen und den von chronischer Depression und Schwächung des Immunsystems Bedrohten durch verstärkte Zuwendung auf. In diesen beiden Elementen, dem Mitweinen und dem einfühlsamen Herausführen aus der Trauer, steckt, wie man aus Kenntnis der psychoneuroimmunologischen Zusammenhänge neuerdings abschätzen kann, ein Stück Weisheit traditionaler Kulturen.Dr. Sabine Schiefenhövel-Barthel und Prof. Dr. Wulf SchiefenhövelAltern und Sterben, herausgegeben von Reinhard Schmitz-Scherzer. Bern 1992.Biologie des Alterns. Ein Handbuch, herausgegeben von Dieter Platt. Berlin 1991.Dobrick, Barbara: Wenn die alten Eltern sterben. Nachdruck Stuttgart 1998.Kanis, John A.: Osteoporose. Aus dem Englischen. Berlin u. a. 1995.Medina, John J.: Die Uhr des Lebens. Wie und warum wir älter werden. Aus dem Englischen. Basel u. a. 1998.Panke-Kochinke, Birgit: Die Wechseljahre der Frau. Aktualität und Geschichte (1772-1996 ). 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Universal-Lexikon. 2012.